Bahnfahren kann ja heutzutage aus unterschiedlichen Gründen etwas beschwerlich sein. Gerade dann, wenn man im grenzüberschreitenden Verkehr mit dem Zug von München in die Schweiz fahren will. Und wenn dann noch die Deutsche Eisenbahnergewerkschaft streikt und man trotz gekauftem Ticket nicht den Sitzplatz bekommen kann, den man eigentlich bezahlt hat, wird einem die bequeme und klimafreundliche Art des Reisens schon ab und an einmal regelrecht versauert. Wären da nicht die ebenso sonderbaren wie beglückenden Begegnungen, die man auch auf einer solchen Reise haben kann.
So geschah es mir an einem späten Donnerstagabend, fast schon am Ende eines verregneten kühlen Apriltages, der alles andere, nur nicht mehr schön zu werden drohte. Am Münchener Hauptbahnhof wollte ich mein Abteil betreten und dort den reservierten Platz aufsuchen. Da mein Ticket zwar für die Fahrt gültig, aber die Sitzplatzreservierung wegen der Umstände des Streikes aufgehoben war, suchte ich mir lange einen Platz, auf dem ich meine Fahrt wenigstens halbwegs bequem würde hinter mich bringen können.
Was ich fand, war ein Sitzplatz an einem Tisch im Speisewagen, an dem ich jedoch nicht allzu lange allein bleiben sollte. Im Gedränge der Reisenden entdeckte ich schnell einen älteren Herren, der ziemlich zielsicher auf mich zusteuerte. Weißgrau Haare, Brille, ein offener Blick und die rote Kappe eines Geistlichen aus Syrien waren das Erste, was mir an diesem gutgekleideten Herren auffiel. Ohne viel Umschweife wurde ich gefragt, ob die weiteren Plätze am Tisch wohl frei seien und schon sass der Herr mir gegenüber. Nach nur wenigen Minuten kam ein weiterer Herr dazu und schnell waren die Plätze am Tisch gefüllt und wir zu fünft.
Nun könnte man meinen, das sei ja so nichts Besonderes und noch weniger etwas, was die Zeit wert sein, darüber zu berichten. Weit gefehlt. Nach einer kurzen Begrüßungs- und Vorstellungsrunde stellte sich heraus, dass der eloquente Herr mit der roten Kappe kein Geringerer war, als Gregor III. Laham BS. Als Geistlicher aus Syrien ist Gregor III. Patriarch emeritus von Antiochien und dem ganzen Orient, von Alexandrien und von Jerusalem. Natürlich hat er mir das nicht verraten, aber ein paar Google-Klicks haben mich schnell zu der Erkenntnis geführt, dass ich hier wohl mit Gottes Segen in diesen Zug und genau an diesen Tisch gelangt war.
Und schon nach ein paar Worten war das Eis gebrochen und wir kamen in ein Gespräch, das ich so schnell wohl nicht vergessen werde. In seiner vielsprachigen Weisheit und der mir eigenen Neugier auf Menschen fanden wir schnell eine Menge Gesprächsthemen, die uns im Zug wohl auch bis nach Mailand geführt hätten, wenn wir denn dorthin gewollt hätten.
Gregor III. erzählte mir von seinem Leben und seinem Tun, ich wiederum berichtete darüber, was mich nach München treibt und wie ich sonst mein Leben verbringe. Spannende Themen auch für den Unternehmer direkt neben mir und die anderen Fahrtgäste am Tisch, die sich immer wieder interessiert in das Gespräch einbringen konnten. Und immer mehr Menschen hörten und interessiert zu, drehten sich immer wieder nach uns um und nahmen Anteil an einer Begegnung, die ich fast schon als göttliche Fügung bezeichnen möchte.
Nun wäre es müssig, hier jedes einzelne Thema und jeden einzelnen Satz aus unserer Unterhaltung wiederzugeben. Viel weniger müssig aber ist es, einmal darüber nachzudenken, welche spannenden und aufschlussreiche Begegnungen das Leben für uns bereithält, wenn wir uns nur dafür öffnen. Wenn wir in der Lage sind, anderen Menschen vorurteilsfrei und unvoreingenommen zu begegnen, wenn wir uns öffnen und nicht einfach nur reden und auch nicht nur zuhören, sondern vor allem hinhören.
Hinhören, was uns der andere zu sagen hat, erleben, was andere erlebt haben, mitfühlen, was Gefühle auslöst und staunen, wie wundervoll das Leben doch sein kann. Das Beste aber ist, andere Menschen so wahrzunehmen, wie sie sind. Nicht so, wie wir sie uns wünschen, nicht so, wie sie vielleicht gern selbst sein würden, sondern genau so, wie sie tatsächlich sind. Das eröffnet uns Horizonte und schreibt Bücher, wie wir davon in unserer Zeit noch viel mehr gebrauchen könnte.
Im Gespräch, das zugegebenermassen immer auch sehr entspannt und oftmals lustig und voller Wortwitz war, kamen wir irgendwie auch auf das Thema Bücher. Gregor III. hat wohl selbst um die 100 Bücher verfasst und ich selbst versuche mich ja auch immer wieder einmal in der Kunst des Schreibens. Was aber viel wichtiger, als das Schreiben ist, dürfte das Lesen sein. Und ja, wir kennen den weisen Spruch: Lesen bildet. Aber wir kennen auch noch viel mehr. Wir wissen, wie uns Bücher bewegen können, was sie mit unserer Erkenntnis- und Gefühlswelt machen können und wie schön es sein kann, auf dem Wege der Literatur am Leben der anderen teilzunehmen. Und wir wissen auch, was Bücher für tolle Impulse für unser eigenes Leben, Denken und Tun setzen können.
Da geht es nicht um das versuchen. Denn wer nur versucht, hat eigentlich gar keine Lust, wirklich aktiv zu werden. Es geht in Wirklichkeit um das Tun. Immer und immer wieder. Auch in schwierigen Momenten, auch dann, wenn alles verloren scheint und erst recht dann, wenn scheinbar alles prima läuft, geht es immer wieder um das ganz eigene Tun. Da war ich mir mit Gregor III. genauso einig, wie mit den anderen Fahrgästen, die immer gespannter und interessierter unseren Gesprächen lauschten.
Auch Gregor III. konnte mir von vielen Stationen in seinem Leben erzählen, an denen alles schon aussichtslos erschien. Erst das klare Bekenntnis zu dem, woran man glaubt und dann das aktive Tun waren die Wege, die ihn aus so mancher Krise herausgeholt haben. Und genauso erlebe ich das bei mir und anderen auch immer wieder. Wer nur versucht, hat längst schon aufgegeben, wer aber tut, kann alles gewinnen.
Ich weiss nicht, ob es die göttliche Ausstrahlung von Gregor III. war oder sein ganz einfaches Menschsein, das mich die Beschwerlichkeiten dieser Reise vergessen und in eine ganz andere Welt eintauchen liess. Egal wie, die Reise war viel zu schnell vorüber und wir hatten gerade noch ausreichend Zeit, unsere Kontakte auszutauschen, sodass wir uns bestimmt schon bald irgendwo wiedersehen werden.
Viel wichtiger als das aber ist die Einsicht, dass jeder Tag Besonderes für uns bereithält und wir selbst aus scheinbar schlechten Momenten wirklich etwas Gutes herausziehen können. Natürlich nur dann, wenn wir in der Lage sind, dieses Besondere und Gute zu erkennen und uns andere Menschen in der besten Weise begegnen, die uns als Menschen zur Verfügung steht. Nämlich im Gespräch, im wechselseitigen Miteinander und im verständnisvollen Hinhören. Wer das versteht, darf sich auch weiterhin auf Begegnungen der besonderen Art freuen. Im Alltag und mit Gottes Segen auch im Zug auf der Reise von München in die Schweiz.
Und der Tag sollte auch nach diesem außergewöhnlichen Erlebnis nicht einfach so zu Ende gehen. Noch am Abend traf ich auf meinen alten Freund, der mit seinen Büchern wohl mehr Menschen bewegen kann, als das einem Shakespeare zugeschrieben wird. Auch diese Begegnung war nicht geplant. Es war wohl eine Vorsehung, an nur einem Tag gleich zwei so wertvolle Begegnungen haben zu dürfen. Bleibt die Spannung zu erfahren, was mir das sagen soll und welche neuen zwischenmenschlichen Begegnungen daraus wieder entstehen können.
Ich lade jeden ein, dem Leben mit grosser Offenheit zu begegnen und zu entdecken, was es zu entdecken gilt. Denn gerade dann, wenn man glaubt, die Welt würde still stehen, bekommt das Leben unvermittelt einen Schwung, von dem man nicht geglaubt hätte, dass es diesen noch gibt. Überzeugt davon bin ich nach solchen besonderen Begegnung wie der mit Gregor III. jetzt mehr, als je zuvor. Danke Deutsche Bahn, danke Deutsche Eisenbahnergewerkschaft, danke Gregor III., danke meinen Freunden. So kann, so muss das Leben sein!